Portrait Zeuge
Ilse Gieseking
„...Am 30. Januar 1933 war der Tag der Machtübernahme. Ich war damals elf Jahre und ging zur Leintorschule. Am Abend fand ein großer Fackelzug statt. Jeder ging mit seiner Schule, nur wer schon in der Hitlerjugend war, ging mit der Hitlerjugend. Wie auch SA-Angehörige mit ihrer Formation marschierten. Der einzige aus unserer Klasse, der mit der Hitlerjugend ging, war ein jüdischer Mitschüler. Die Familie hat Nienburg vor dem Holocaust verlassen können.
In der Schule hieß es nicht mehr „Guten Morgen“, sondern „Heil Hitler!“. Eine Mitschülerin war empört: „Ich soll ‚Heil Hitler!’ sagen und meinen Vater haben sie ins Gefängnis geworfen.“ Wir hatten keine Ahnung von Politik und wussten nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Wir hatten wohl schon mal „Braunhemden“ im Straßenbild gesehen, vielleicht auch mal von weitem eine politische Veranstaltung auf dem Gasplatz. Aber mit elf Jahren war es für mich unwichtig....

...Im Februar 1934 ging ich zu meinem ersten BdM-Nachmittag. Ich war neugierig geworden, denn viele Jungen und Mädchen erzählten begeistert vom „Dienst“. Dieser Nachmittag fand im ehemaligen Logengebäude statt. Die Leitung hatte eine verheiratete Frau, Mutter von zwei Töchtern, etwas jünger als ich. An diesem Nachmittag hatten wir Volksliedersingen beim Pastoren. Das musste doch etwas Gutes sein. Im Sommer wurde viel gewandert und Sport getrieben. Wir durften eine Kluft tragen, bestehend aus einem Rock mit zwei Taschen, weißer Bluse, schwarzem Dreieck-Tuch und Lederknoten. Das Wichtigste war die Kletterweste.....

...Für mich wurde es noch besonders Interessant, da ich die Ferien jetzt nicht mehr bei Verwandten verbringen brauchte, sondern mit dem BdM, beziehungsweise mit den Jungmädchen auf Fahrt gehen konnte. Zum Beispiel in die Jugendherberge ans Steinhuder Meer. Ganz Besonders wichtig war mir eine Fahrt mit dem Fahrrad nach Worpswede in die dortige Jugendherberge, um dort mit den Künstlern in Verbindung zu kommen. Etwas, was mich heute noch interessiert. Eine andere Reise ging nach Lübeck, Travemünde, Fehmarn – also an die Ostsee. So lernte ich etwas von Deutschland kennen, denn ich hatte ja kein Geld, um große Reisen zu machen....“
Ilse Gieseking

geb. 6.9.1921 in Nienburg
Von 1928 bis 1936 in der Leintorschule
Ab 1938 Handlungsbevollmächtigte bei der Norddeutschen Kreditbank in Nienburg
Von 1954 bis 1984 bei der Commerzbank Nienburg, zuletzt als Prokuristin.
BDM-Mädchen
Jungmädel